Sich verkleiden und in eine andere Rolle schlüpfen kann helfen, aus sich heraus zu gehen. Am Tuntenball können wir dieses Phänomen seit über 30 Jahren beobachten.
Interview von Ruperta M. Steinwender
Jeder weiß sich in den unterschiedlichsten Rollen darzustellen. Wir sind geübt, im Schau-spielen auf der Bühne unseres Lebens das Publikum – unser soziales Umfeld – zu unter-halten. Mitunter auch uns selbst. Lassen wir uns gemeinsam auf ein Gedankenspiel ein: Wir setzen für eine Nacht die Maske unseres Ichs auf, die meist – verstaubt ganz hinten im Kasten – unangerührt liegen bleiben muss, weil wir Angst haben, sie den Schaulustigen zu zeigen. Hundertwasser sagte bereits: „Fürchtet euch nicht davor, euch so zu zeigen, wie ihr wirklich seid. Habt keine Angst, dass ihr etwas lächerlich wirken könntet, denn ihr werdet es niemals sein. Niemals, wenn ihr euch zeigt, wie ihr wirklich seid!”
Sechs Fragen an den Soziologen Dr. Benjamin Marent über Inszenierung und Authentizität.
Die Wahl unterschiedlicher Masken eröffnet neue Erfahrungshorizonte
Panthera: Wie viel Inszenierung brauchen wir?
Dr. Benjamin Marent: Unsere Gesten, Sprache, Kleidung und Rituale sind stets an die Situatio-nen, an welchen wir teilhaben, angepasst. Da-rüber sind wir uns zumeist gar nicht bewusst. Ein gewisser Grad an Inszenierung ist daher ein Muss, der uns routiniert durch unseren All-tag führt. Außeralltägliche Inszenierungen, in welchen wir uns zum Beispiel in Romanfiguren hineinversetzen, einem Theaterspiel folgen oder in Maskenbällen eine besondere Seite von uns in Szene setzen, verhelfen uns zu Re-flexion und Perspektivenwechsel. Wir können durch Inszenierung unser Selbst kennenlernen oder gegenüber anderen preisgeben.
Warum verstecken wir uns gerne hinter diversen Fassaden?
Genauso wie wir unser Gegenüber analysieren und dessen Einstellungen und Gefühle aus-findig machen wollen, versuchen wir, von uns selbst ein bestimmtes Bild zu vermitteln. Wir wollen unsere Person in ein gewisses Licht rücken und den Eindruck, den wir abgeben, managen. Dabei kommen uns soziale Rol-len, Symbole und Verhaltensweisen zur Hilfe. Die Fassade entlastet die Teilnehmer*innen auch im sozialen Leben und ermöglicht den reibungslosen Ablauf der Kommunikation.
Warum fühlen wir uns wohl, wenn wir situationsabhängig unterschiedliche Masken aufsetzen?
Die Wahl unterschiedlicher Masken eröffnet neue Erfahrungshorizonte. Wir können in neue Rollen schlüpfen und unser Ich aus einer neu-en Perspektive betrachten. Dabei können wir bestimmte Rollen und soziale Erwartungen abstreifen und uns episodisch in gewonnener Freiheit bewegen.
#Wir können durch Inszenierung unser Selbst kennenlernen oder gegenüber anderen preisgeben.
Wie authentisch kann eine Person sein?
Der Begriff Person bezeichnet jene Seite unseres Menschseins, die wir nach außen richten und die für unsere Mitmenschen wahrnehmbar ist. Die Person konstruiert sich durch Interaktion und wird zu einer Wahrnehmungsoberfläche. Sie trägt einen Namen, ist ansprechbar und verpflichtungsfähig. Diese soziale Entwicklung und Konstruktion könnten als Gegensatz zur Authentizität gefasst werden. Tatsächlich bewegen wir uns aber in multiplen sozialen Feldern, in denen wir unter-schiedliche Rollen wählen und wechseln. Die Freiheit zur Wahl und die Dynamik des Wechsels zwischen vielfachen Rollen macht uns als Personen einzigartig und bietet die Möglichkeit, unseren Emotionen, Erfahrungen und Vorlieben Ausdruck zu verleihen, das heißt authentisch zu sein.
In welchen Lebenssituationen wird ein authentisches Sein und Handeln verlangt?
Gesellschaftlich wird immer mehr Authentizität verlangt. Man will nicht mehr den Massenurlaub, sondern die authentische Erfahrung fernab der etablierten Ressorts. Man sucht das Besondere in dem Image, das gewisse Massenprodukte vermitteln, und auch der Jobmarkt bevorzugt vermehrt Persönlichkeiten, die keine Standardkarrieren, sondern individuelle Lebensläufe aufweisen. Die Moderne wird auch als Prozess der Singularisierung beschrieben, wie es der Soziologe Andreas Reckwitz definierte. Hier findet sich das Individuum großteils befreit von vor-gefertigten Mustern und Lebensverläufen und kann oder muss durch die Wahl unterschiedlicher Optionen und Rollen seine Authentizität steigern. In der Komplexität dieser Gesellschaft sind wir oft mit ambivalenten Seins- und Handlungsanforderungen konfrontiert.
Welche Auswirkung hätte es auf unser Umfeld bzw. die Gesellschaft, wenn wir für einen Tag die Masken fallen lassen würden?
Personen und Rollen transformieren Weltkon-tingenz. Darunter verstehen wir die Offenheit und Ungewissheit unserer Lebenserfahrungen in einer Erwartungssicherheit. Grundsätzlich kann unser*e Partner*in, unser*e Chef*in oder die/der Bäcker*in von nebenan auf alle erdenklichen Weisen reagieren, wenn wir mit Blumen aufkreuzen, einen Urlaubsantrag einreichen oder unser morgendliches Dinkel-weckerl bestellen – und doch tun sie dies zu-meist auf eine für uns typ ische Weise. Obwohl es, besonders in Intim beziehungen, wichtig sein kann, die Masken fallen zu lassen, würde ein vollständiges Auflösen sicher zu einem er-heblichen Anstieg von Un sicherheit und Orien-tierungslosigkeit führen.