von Johanna Egger
Wir haben ihn nicht erfunden, den Skandal. Schon als Pablo Picasso 1907 sein Schlüsselwerk „Le Demossielles d‘Avignon“ präsentierte, war das ein ordentlicher Skandal. Haufenweise fielen die Kinnladen des klassizistischen Kunstverständnisses. Denn was da vor ihnen in der Leinwand haftete, war kein bisschen klassisch. Unförmige Proportionen, zelebrierte Abstraktion und die Aufgabe der räumlichen Perspektive – keine klassische Ästhetik. Das war ein Skandal und es war dieser seltsam prickelnde Moment, in dem ein Weltbild bricht. Picassos Werk war aufregend und von einem unbestimmten Reiz. Ein Skandal, eben.
Der Skandal markiert in der kulturellen Evolution einen Bruch. Er leitet in eine neue Ära ein, indem er die alte revolutioniert. Die freie Unangepasstheit, der neue Stil, die süße Neuerfindung, das ist der Skandal. Reizend untypisch ist er, seine Anerkennung sind die gerunzelten Stirnfalten seiner KritikerInnen.
Die bildende Kunst ist eine ständige Wiedergeburt des Skandals. Im 21. Jahrhundert ist das schockierende zum Kunstbegriff geworden. Das macht sie seltsam. Aber auch ziemlich geil.
Christmas-Plug, McCarthy, 2014
Der Place Vendome ist der Ausdruck Pariser Eleganz, Nobeljuweliere und Chic schmücken den Platz wie Christbaumkugeln. 2014 stellte Paul McCathy schließlich einen dazu passenden Tannenbaum in seine Mitte, übergroß und aufgeblasen. Obwohl, in sehr abstrahierter Form. Aus Plastik. Das Kunstwerk erinnert an einen anderes. Einen Buttplug. Ein 24 Meter größer, quietschgrüner, unkommentierter Buttplug steht da also, im Herz der französischen Klassizität. Es folgt die Fütterung des Skandals: Schockierte Kunstkritiker, herzschwache Damen, handgreifliche Passanten, ein gekränkter Künstler. Wenige Tage später ist die Luft draußen. Wörtlich. Vandalen zerstören das Werk des britischen Künstlers McCarthy. Doch er war da und nur darum geht es am Ende. Er, der Plug-Tree, die zelebrierte Potenz der Kunst.
Dirty Corner, Kapoor, 2015
Der britische Künstler Anish Kapoor platzierte 2015 einen 60 Meter langen Metalltrichter im Schlosspark von Versailles. Das Werk trug den Namen „Dirty Corner“, viel wesentlicher aber ist seine Betitelung als „Vagina der Königin“. Diese Assoziation war es, die von KritikernInnen skandalisiert wurde. Von „entarteter Kunst“ sprach man auf sozialen Netzwerken. Kapoor schien damit den Vandalismus aus dem konservativen Kulturverständnis heraus zu kitzeln. Das Werk wurde schließlich morgens beschmiert vorgefunden. Antisemitische und antidemokratische Statements prangten nun in weißen Lettern vom dunklen Metall des Werkes. Der jüdische Künstler wünschte aber keine Reinigung dessen – man solle sehen, was in dieser dreckigen Ecke Frankreichs geschehen ist. Der eigentliche Skandal bestand schließlich nicht in der abstrakten Abbildung einer königlichen Vagina, sondern im brutalen Dialog zwischen Kunst und Gesellschaft.
Fontain, Duchamp, 1917
Einen der bekanntesten Tabubrüche der Kunstgeschichte lieferte 1917 Marcel Duchamp, als er ein unverändertes Pissoir in einer Kunstgalerie ausstellte. Damit erhob er erstmals ein industriell gefertigtes Objekt zum Kunstwerk, das kreative Handwerk bestand ausschließlich in der Auswahl des Gegenstandes. Er provoziert mit offensichtlichen Unsinn, mit der geforderten Irritation der Deplatzierung und mit der Potenz der synthetisch gefertigten Massenindustrie. Das Werk wurde als „Nichtkunst“ deklariert, verachtet und später als einflussreichstes Kunstwerk der Moderne beschrieben.
Wir sehen also, Skandale sind etwas durchaus Richtungsweisendes in der Kultur. Sie konfrontieren die BetrachterInnen mit dem Absurden, dem Neuen und schließlich mit sich selbst. Skandale blasen dem eigenen Weltbild den Staub aus den Adern. Skandale emotionalisieren, euphorisieren und machen die ganze Traditionskultur von Zeit zu Zeit lebendig. Und dann wird’s spannend.